November

Es ist wieder einmal soweit – die Zeit der Treibjagden hat begonnen. Mit Hund und Flinte auf Rehe zu jagen, das ist eine sehr ursprüngliche Sache. Es ist die Jagd, wie sie Väter und Grossväter schon betrieben haben.

 

Die Schweizer Jäger waren lange der Überheblichkeit und den unsachlichen Behauptungen zum Thema Schrotschuss und überhaupt Rehwild-Treibjagd aus der Nachbarschaft ausgesetzt. Am lautesten geschrien haben immer jene, die gar nicht wussten, was in der Schweiz eigentlich Sache ist. Noch heute wird man gelegentlich offen angefeindet, wenn man berichtet, gerne mit Hund und Schrot Rehe zu jagen. Aber in den letzten Jahren begegnet man auch immer wieder ausländischen Jägern, die begeistert und voll Achtung von den Schweizer Rehjagden berichten.

 

Das sind jene, die die Gelegenheit hatten, selbst einmal in der Schweiz mitzujagen. Man gewinnt, nebenbei bemerkt, auch als Gast-Treiber ganz gute Eindrücke. Umso bedauerlicher ist es, dass die Schrotjagd zunehmend auch von Schweizer Jägern in Frage gestellt wird. Letztlich ist, wenn etwas nicht ganz „eben“ läuft, weniger die jeweilige Jagdart oder die verwendete Technik schuld, sondern der Jäger, der die Jagd ausübt und die Technik verwendet.

 

Die Rehjagden bietet immer wieder interessante Einblicke in das Verhalten der Rehe. Nun scheint es irgendwie „logisch“, dass bei der ersten Jagd mehr Rehe gesehen werden als bei der letzten; schliesslich wurden ja vorher noch keine erlegt. Tatsächlich aber sind die Ergebnisse von Jahr zu Jahr völlig unterschiedlich. Es kommt durchaus vor, dass bei der ersten Jagd nur wenig Rehe vorkommen und noch weniger erlegt werden, während es bei den nachfolgenden Jagden völlig anders läuft. Ja, es kam mehrfach vor, dass auf der letzten Jagd am meisten Rehe gesehen und erlegt wurden, selbst dann, wenn der Abschuss auf den Vorjagden schon weitgehend erfüllt wurde.

 

Hier muss eigentlich jeder Jäger nachdenklich werden weil es ihm zeigt, wie wenig die Zahl der gesehenen Rehe mit jener, der tatsächlich vorhandenen, zu tun hat! Natürlich hat der Jäger seine Erklärungen zur Hand; die Rehe waren eben am fraglichen Tag nicht da, sie standen wetterbedingt beim Nachbar usw. Das mag ja im Einzelfall durchaus so sein, aber die Situation ist auch in den Grossrevieren, in denen die Rehe nicht zum Nachbarn ausweichen, nicht anders.

 

Diese Erfahrung machten schon in den 50er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts die Dänen auf Kalö. Dort wurden ab 1955 jeden Winter Rehe gefangen und markiert. 1956 waren in einem isolierten, 165 ha großen Waldstück (Halbinsel) 38 Rehe mit Halsbändern markiert. Danach wurde eine mehrere Stunden dauernde „Zähldrückjagd“ mit Treibern und Hunden durchgeführt. Bei dieser kamen insgesamt elf Rehe in Anblick, davon waren nur vier markiert. Das heisst, von 38 markierten Rehen hatten sich 34 erfolgreich gedrückt. Dies, obwohl bei derartigen Zähltreiben die Zahl der Treiber/Zähler ungleich höher ist als bei einer Schweizer Reh-Treibjagd. Kalö ist kein Einzelfall; es gibt noch eine ganze Reihe weiterer Beispiele.

 

Sie alle zeigen uns, dass sich Rehe perfekt zu drücken verstehen, vor allem aber, wie schwer es ist, Rehwildbestände halbwegs brauchbar einzuschätzen, geschweige denn Rehe zu zählen. Wer das Glück hat, lange Jahre im selben Revier jagen zu können und sich neben den Jagdterminen und Strecken auch die jeweilige Wettersituation notiert, wird vielleicht einen Trend bezüglich der erfolgversprechendsten Wetterlage erkennen. Aber man muss sehr vorsichtig sein, denn aus zehn oder 20 Jagdergebnissen lassen sich noch keine hieb- und stichfesten Regeln erstellen. Jedes Ergebnis wird auch ein klein wenig vom Zufall mitbestimmt. Da sind die ganz unterschiedlich motivierten und qualifizierten Schützen. Nicht immer sind es dieselben Hunde, und nicht immer sind die Hunde in gleicher Verfassung. Natürlich ändert sich im Laufe der Jahre auch im Revier strukturell sehr viel. Gute Flächen werden zu Bauland; neue Strassen entstehen; der Wald verändert sein Gesicht.

 

Nach meinen Erfahrungen, die aus den Ergebnissen im eigenen Revier, sowie der Auswertung der Strecken grosser staatlicher Verwaltungsjagden resultieren, sind in der Regel niedrige Temperaturen, so um die null Grad, trockenes Wetter und geringer Wind günstig. Da werden die Rehe leicht hoch. Hohe Temperaturen, wie sie vor allem bei Föhnlage gegeben sind, korrelierten mehrheitlich mit schlechten bis mäßigen Strecken.

Grundsätzlich haben die Rehe bei der Treibjagd wenig Interesse zu flüchten. Wenn es ihnen ausreichend oder sinnvoll erscheint, drücken sie sich lieber. Je mehr Rehe sich in einem getriebenen Bereich befinden, umso leichter hat es das einzelne Reh sich zu drücken und umso geringer ist die Zahl jener, die gesehen werden, gemessen an den tatsächlich vorhandenen. Warum? Weil es für die Hunde unglaublich schwierig wird, wenn ein ganzes Waldstück intensiv nach Reh riecht.

 

Dabei haben die Rehe die lauten Hunde sozusagen akustisch im Blick und können entsprechend taktieren. Dabei verbreiten sie ihre Witterung und schaffen bei den Hunden Irritationen. Nicht selten jagen Hunde dicht an einem sitzenden Reh vorbei, ohne dass dieses hoch wird. Rehe können Hunde sehr gut einschätzen. Würden Rehe bei Vermutung einer Gefahr grundsätzlich flüchten, hätten sie bald ein Energieproblem.

 

Vermutlich ist das mit eine Erklärung, warum bei starkem Wind meist weniger Rehe erlegt werden als bei relativer Windstille. Der Wind überlagert einfach die übrige Geräuschkulisse. Ein noch stumm durchs Falllaub stöbernder Hund wird von den Rehen nicht oder erst spät gehört.

 

Sie können ihn schlechter orten und akustisch verfolgen, also gehen sie sozusagen in Wartestellung. Ist es in den Wipfeln hingegen still, werden die Rehe viel früher sensibilisiert. Manche stehen dann auf und verdrücken sich ohne große Eile. Dabei bleiben Geiß und Kitz meist zusammen. s kann aber auch sein, die Rehe warten einfach einmal ab und werden dann doch von einem Hund oder Treiber überrascht. Dann kommt es zur spontanen Flucht, bei der sich Geiß und Kitz oft trennen. Letzteres macht den Hunden die Arbeit nicht leichter.

 

Man stelle sich eine nur einen Hektar große Jungwuchsfläche vor, in der drei Rehe stecken. Meist tun sich diese nicht in der Mitte der Fläche nieder, sondern eher am Rand. Warum? Weil sie dort Gefahren viel früher erkennen und überlegter reagieren können. So, und nun nähern sich die rufenden und mit Stöcken an Bäume klopfenden Treiber. Diese nähern sich nicht als „Rudel“, sondern in breiter Front, über die Fläche verteilt. Vielleicht haben die Rehe auch schon einen Jäger beobachtet, der seinen Stand einnahm? Rotwild würde jetzt vielleicht sein Heil in der Flucht suchen und die Fläche verlassen.


Aber Rotwild lebt auch viel grossumiger als Rehwild. Sein Jahresstreifgebiet kann etliche hundert Hektar umfassen, das eines Rehs ist selten größer als 30 Hektar, meist jedoch kleiner. Rehe leben und überleben mit und von ihrer intimen Ortskenntnis. Also werden sie im aktuellen Fall eher taktieren, werden sich mit lockeren Fluchten oder auch ruhig ziehend etwas nach rechts oder nach links absetzen. Nicht selten ziehen sie auch einer Gefahr entgegen, versuchen sich zwischen den Hunden und Treibern durchzumogeln. Bei diesem taktierenden Verhalten sind sie oft gezwungen „umzudenken“.

 

Da nähert sich vielleicht ein Hund, der sie zwingt, neuerlich die Richtung zu ändern. Am Rand angelangt werden sie nach Möglichkeit verhoffen und das Vorland sondieren. Dann kommt ihnen vielleicht eine Prise Jägerwitterung in die Nase und sie drehen erneut. Jedenfalls wird der kleine Einstand im Nu zu einer richtigen „Stinkbude“. Überall hängt warme Rehwitterung in der Luft, mit der der Hund fertig werden soll. Vielleicht wird ein Reh vor ihm flüchtig und er folgt ihm lauthals. Die anderen beiden Rehe aber werden im vertrauten Einstand bleiben und erst einmal abwarten.

 

Den Schweizer Rehen ist diese Art der Bejagung gut bekommen, und sie sind – ohne Kraftfutter – vielerorts stärker als jene in Revieren, in denen streng „selektiert“ wird!

Dass für die Rehe jede einzelne Treibjagd eine nicht zu unterschätzende Lehrstunde im Umgang mit Jägern ist, leuchtet ein. Je häufiger gejagt wird, umso „cleverer“ werden die Rehe. Sie lernen, wo es gefährlich ist, wo man sich besser bedächtig und wo man sich besser schnell bewegt. Sie lernen Hunde richtig einschätzen, lernen besonnen zu reagieren. So haben von uns „gut ausgebildete“ Rehe durchaus Chancen alt zu werden, während uns die noch unbedarften Jungen leicht ins Messer (pardon, natürlich in die Schrote) laufen. Wir tun folglich gut daran, uns zu beschränken. Nicht zuletzt deshalb wurde die Zahl der Treibjagden von einigen Kantonen auch beschränkt.

 

Alles in allem verursachen aber zwei, drei Treibjagden weniger Druck als die allabendliche Präsenz des Jägers bei der Einzeljagd!

 

 

 

Quelle:

Bruno Hespeler:

Gedanken über die Treibjagd auf Rehe in der Schweiz , Rehe im November